Raumverschiebungen. Regionale Räume im Zeitalter der „Globalisierung“

22. bis 25. Mai 2007

6. Europäischer Dorferneuerungskongress „Geeintes Europa – Reich an Vielfalt und Herausforderungen“ in Kamíen Slaski, Polen

Vortrag von Univ. Prof. Wolfgang Müller-Funk in Stichworten

  1. Spatiale Wende (spatial turn“)  in den Kultur- und Sozialwissenschaften: >reale<, symbolische, imaginäre Räume im soziokulturellen Kontext.
  2. Raum als dynamische Größe ( Produktion, Gestaltung, Konstruktion)
  3. Die Ausdifferenzierung bestimmter Raumebenen – die Bedeutung des realen Territoriums nimmt ab, die Bedeutung der sozialen und kulturellen Funktion nimmt zu. Soziale und kulturelle Räume sind nicht determiniert durch die sog. natürlichen Voraussetzungen.
  4. „Globalisierung“ als Theorie vom Raumwandel: –    Veränderung der symbolischen Räume (Verringerung der Differenz: Homogenisierung und Heterogenisierung in Lebensstil, Ökonomie durch             Kommunikationsmedien) –    Veränderung der >realen< Abstände durch Transport- und Verkehrsmedien –    Veränderung des Verhältnisses von Stadt und Land, von Zentrum und Peripherie –    Zusammenwachsen, Interdependenzen –    Räume in Bewegung: Permanenz der Völkerwanderung (Arbeitsmigration, temporär oder permanent, touristische Migration, temporär oder permanent): Dominanz der Arbeitsmigration von den Peripherien in die post-urbanen Zentren, touristische Wanderbewegungen von der Städten aufs „Land“)
  5. Problematik der Kategorie „ländlicher Raum“: –    basiert noch immer auf der Gegenüberstellung der traditionellen Stadt und des traditionellen Landes. Beide haben sich verändert. –    Periphere Räume sind nach der schrittweisen Durchsetzung marktkapitalistischer Ökonomie in westlichen Gesellschaften nicht länger durch Agrarproduktion     oder gar durch Subsistenzwirtschaft (Selbstversorgung) gekennzeichnet. –    Gemischte Ökonomie in peripheren, post-agrarischen Räumen. –    Selbst und Fremdbild bleiben jedoch nach wie vor von diesen früheren Nutzungsweisen und den ihnen entsprechenden Sozial- und Symbolordnungen geprägt (z. B. positive oder kritische Nostalgisierung von „Heimat“ im österreichischen Film und in der Literatur).
  6. Der periphere Raum in Europa, aber auch anderswo ist nicht einheitlich. Beispiele: –    metropolennaher Raum (Umland von Wien) –    dünn besiedelter Raum. (Waldviertel, Weinviertel, Mostviertel, Sudmähren, Südsteiermark, Masuren, Peloponnes) –    strukturierter Raum mit mittleren urbanen Fokussierungen. (Oberösterreich) –     regionale touristische Räume.(Tirol) –    post-industrielle regionale Räume ( Teile der Steiermark, Mittelengland, Schlesien)
  7. Ein düsteres Szenario des regionalen Raumes: der einstmalig ländliche Raum als Verlierer der Moderne und Hypermoderne (Globalisierung): –    Abwanderung (Sonderfall. Vertreibung) als sozio-kultutrelle Auszehrung –    Mangel an Infrastruktur –    Überalterung –    Dominanz vormoderner überkommener Strukturen –    Ausgrenzung junger Menschen und Frauen –    Verschwinden der  ländlichen Identitätskonzepte, die durch keine neue ersetzt werden (ländliche Raum nähert sich – symbolisch- den              randständigen Bezirken     urbaner Milieus an).
  8. Ein heiteres Szenario  würde einerseits auf die erfolgreichen Regionen Bezug nehmen und andererseits die Mängel der hypermodernen marktkapitalistischen Ökonomie samt ihrer kulturellen Lebensstile hervorheben: Moderne Gesellschaften brauchen periphere, naturnahe Räume (Kompensationsthese): –    Sozial überschaubarer und >greifbarer<  Raum (Solidarität,  Zusammenleben, Gestaltungsmöglichkeiten des einzelnen)
    –    naturnaher Raum (Erholung, spezifische Erfahrungsmodi)
    –    höhere Lebensqualität, geringere Fremdbestimmung  im Hinblick auf Zeit, Raum und Lebensstil.
    –    relativ preiswerter Lebensraum.
    –    markierter Raum mit oftmals historischen Architekturelementen (kein „Nicht-„Ort“, kein passagerer Raum).
    –    Funktion verhältnismäßig leerer Räume für Kultur.
  9. These von der Deterritorialisierung und Dezentrierung: Gefahren und Chancen.
    –    Verstärkung der negativen Tendenzen im Sinne von (7)
    –    Verstärkung der positiven Möglichkeiten im Sinne von (8)

Noch einmal die drei  zentralen Prämissen des „spatial turn“ (vgl. 2 und 3).
1.    Raum ist eine von Menschen geschaffene und produzierte soziokulturelle Entität
2.    Der natürliche Raum determiniert nicht den sozio-ökonomischen Raum.
3.    Bestimme Raumaspekte sind unter den Bedingungen moderner kapitalistischer Gesellschaften nicht deckungsgleich.

Daraus ergibt sich eine ganze Reihe von Möglichkeiten. Eine Auswahl:

–    Vernetzung mit anderen Räumen im Rahmen einer globalisierten Ökonomie
–    Nutzung moderner digitaler Medien (Verringerung räumlicher Abstände, und zwar real wie symbolisch)
–    Nischenprodukte und – dienstleistungen, die anderswo nicht bzw. nicht zum entsprechenden Preis angeboten werden können.
–    Ökologisierung der Landwirtschaft und der Lebensmittelproduktion.
–    Verlagerung von Produktionsformen, die nicht unbedingt in urbanen Zentren angesiedelt sein müssen.
–    Nutzung von Grenzen für Grenznahe Räume  als Schwellenräume mit Brückenfunktion (im Kontext der europäischen Integration)
–    Nutzung bestimmter Segmente des Tourismus (Kultur, Gesundheit, Sport etc.)

Ob die Möglichkeiten genutzt werden, hängt also nicht von den sog. natürlichen Gegebenheiten, sondern davon ab, wer diese regionalen Räume nutzt, gestaltet     und kulturelle ausgestaltet.  Solche kulturellen Faktoren sind beispielsweise:

–    Überwindung traditioneller konservativer, rückwärtsgewandter und gegenweltlicher Leitbilder („Heimat“)
–    Zuzug von Menschen aus anderen Bereichen (Nachbarländer, städtischer Raum und Umraum). Beispiel:  österreichisches Umland von Bratislava. (Heterogenisierung des ländlichen Raumes)
–    Integration ortsfremder Bevölkerung seitens der traditionellen Bevölkerung
–    Ausbau bestimmter Infrastrukturen (Politik): Verkehr, Information, Bildung
–    Nutzung der Ressourcen, über die temporäre Bewohner potentiell verfügen.(kultureller Transfer: Touristen, Aussteiger, Zweitwohnsitzer, Pensionisten).
–    Entwicklung von zeitgemäßen kulturellen Ausdrucksformen.
–    Selbstbewusste Kommunikation mit urbanen Zentren und deren Kultur.
BewohnerIn einer hochgradig strukturierten und differenzierten globalen Welt sein.

Wolfgang Müller-Funk (im Bild von links nach rechts mit Maria Forstner, Landesobfrau der Niederösterreichischen Dorf- und Stadterneuerung, Theres Friewald-Hofbauer, Geschäftsführerin der Europäischen ARGE Landentwicklung und Dorferneuerung, und Mariola Szachowicz, Marschallamt Opole) nach seinem beeindruckenden Vortrag, der für etliche Diskussionen sorgte.